Wer hätte das gedacht, die Mithilfe der Bürger und Bürgerinnen ist gefragt, Verstöße gegen Corona aufzuspüren. Ein Formular der Stadt Essen ist online. Ein Klick hier, und Sie können gleich mal Ihrem Kontrahenten eins auswischen oder den Behörden bei der Nachverfolgung von Quarantäne-Sündern unter die Arme greifen, je nachdem wie Sie dazu stehen. Das ist wirklich eine neue Qualität der Bürgerüberwachung. Digitalisierung macht’s möglich, von der Couch aus aktiv zu werden. Um keine Gerüchte zu schüren, habe ich das Formular extra gespeichert und zur Einsichtnahme hier platziert.
Auf Twitter äußert sich die Stadt Essen wie folgt dazu:
Und vergessen Sie nicht, Fotos vom Verstoß hochzuladen. Mit Smart Phone ist jeder dafür gut gerüstet. Die Hochladefunktion ist als Pflichtfeld mit * markiert. Insofern ist die Frage, ob Sie Fotos zu dem Verstoß hochladen möchten, nicht optional. Die Angabe Ihrer Kontaktdaten ist es dagegen schon. Das digitale Werkzeug für alle sich berufen fühlenden Blockwarte und inoffiziellen Mitarbeiter steht hiermit online zur Verfügung.
Der Fall macht derweil die Runde. Auf Facebook äußerte sich am 13. Oktober FDP-Politiker Wolfgang Kubicki zum unsäglichen Dokument und dort monierte chinesische Verhältnisse in Essen: „Die Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger jetzt im amtlichen Auftrag zu Denunzianten gemacht werden und Fotos aus dem öffentlichen Raum hochladen sollen, erinnert an schlimmste Zeiten. Damit schiebt man Angst und Misstrauen in unsere Gesellschaft. Fehlt nur noch, dass die Abschnittsbevollmächtigten prozentual am Bußgeld beteiligt werden. Dieses Denunziationsportal ist mit Sicherheit rechtswidrig und sollte sofort gelöscht werden.“
Die Rede vom „Abschnittsbevollmächtigten“ gilt in Essen laut Frankfurter Allgemeinen FAZ als Provokation. Der Vergleich mit einem Polizisten im Wohnbezirk in der DDR scheint die Nerven der Leiters von Essens Stadtverwaltung mächtig strapaziert zu haben. „Herr Kubicki: Ich finde Ihren Post mehr als daneben. Sie sollten ihn löschen und sich entschuldigen“, schrieb Stadtdirektor am 13. Oktober Peter Renzel in seinem Lokbuch auf Facebook.
„Im Büro stand das Telefon nicht still, E-Mails ohne Ende … und zwischendurch leider keine Atempause. Und nicht nur mir geht es so. Von 16.00 Uhr bis 18.00 Uhr war ich gemeinsam mit Prof. Dr. Trilling im Studio bei Radio Essen beim Experten-Talk. Zwei Stunden wurden wir von Cheferdakteur Christian Pflug befragt oder bekamen Fragen von den Hörerinnen und Hörern eingespielt“, so Renzel weiter. Haben ihn Journalisten und Zuhörer jetzt besser verstanden? Im Lokbuch folgen erklärende Worte zur „Arbeitshilfe“, wie Renzel das nennt. Sie sollte ihm zufolge die Meldungen der Bürger kanalisieren. „Uns wird der Aufruf zum Denunziantentum unterstellt. Und viele stimmen mit ein. Und das in einer Art und Weise, die mich nachdenklich, aber auch wütend macht“, macht Renzel seinem Ärger Luft.
„Im Duden ist übrigens unter „Denunzieren“ sinngemäß nachzulesen!
„Jemanden öffentlich anprangern oder diffamieren, aus niederen Beweggründen anschwärzen“, erläutert der Stadtdirektor Kraft seines Amtes. „Die Übersendung des Formulars ist weder öffentlich, noch sind die Beweggründe nieder, sondern sollen dem Schutz aller dienen! Wütend hat mich nicht die kritische Auseinandersetzung mit dem „Tool“ gemacht, sondern mit welcher Hetze und Wortwahl uns begegnet wird. Die E-Mails mit einer unfassbaren Fäkalsprache unseren Mitarbeitenden gegenüber ist unwürdig und beleidigend.“
Fäkalsprache ist ganz klar daneben und abzulehnen. Kubickis spottende Idee, aus Anzeigen von Verstößen ein Geschäftsmodell für die Stadt und IMs zu entwickeln, hat indes einen gewissen Charme. Wie gesagt, Meldungen mit Fotos können bequem von überall geschickt werden, ohne Kontaktangabe, versteht sich, es sei denn ein Honorarmodell ist dem ganzen hinterlegt. Auch das ist jetzt ein humoriges Weiterschreiben der Geschichte. Zum Nachdenken lohnt das Ganze allemal. Bei unzählig eingehenden Meldungen ist eine KI gefragt, die das kanalisiert nach leichten, mittleren und schweren Verstößen. Für das Datennetz und die Digitalisierung der Stadtverwaltung ist das eine immense technische Herausforderung. Bei Erfolg entwickelt sich daraus ein Leuchtturmprojekt.