Der Klang der Stufen

Es ist jetzt ein gutes Jahr her, als wir das Gadebuscher Schloss besuchten. Gemeinsam traten meine drei Geschwister und ich die Reise in die Vergangenheit an, obgleich wir hier im damaligen Internat nicht zur selben Zeit untergebracht waren. Mein zweitältester Bruder machte Mitte der siebziger Jahre den Anfang. Dann folgten meine zwei Schwestern und ich. Mit meiner zweitältesten Schwester verbrachte ich drei Jahre im Schloss gemeinsam. In einem Zimmer wie in den letzten Jahren zu Hause wohnten wir nicht. Wir teilten das Zimmer mit gleichaltrigen Mitschülern. Oben wohnten die Mädchen und unten und im Mittelbau die Jungen. Um 22 Uhr wurde die Durchgangstür zur obersten Etage an der Treppe geschlossen.

Wir bahnen uns den Weg nach oben von Esszimmer und Küche über das Zimmer des Internatsleiters. Diese Treppe war früher verboten. Sie liegt vom oberen Klubraum aus gesehen auf der anderen Seite und ist begehbar. Keine Stufe fehlt. Nach dem vertrauten Eintreten unten wirkt es jetzt etwas fremd, auch wenn Bilder der Vergangenheit mit einem Blick von oben nach unten sich bei mir einstellen. Da es früher nur beim Schauen blieb, ist Distanz spürbar. Im Waschraum oben angekommen, purzeln die Erinnerungen. Ganz in der Nähe wohnten meine Schwestern. Meine einstigen Zimmer, drei waren es in den Jahren an der Zahl, liegen im Gang hinter dem Klubraum. Ich renne durch den Gang, greife die Tür meines letzten Zimmers und schaue, ob die Zimmernummer noch zu sehen ist. Da steht sie tatsächlich. Eine 7.

Jeder von uns prüft, in welchem Bett er früher im Zimmer geschlafen hat. Der Boden ist baufällig, aber begehbar. „Ob das für die Treppe nach unten auch gilt“, frage ich mich. Ich hatte gehört, dass es Lücken in den Stufen geben soll. Doch ich bin neugierig und laufe erst vorsichtig und dann schneller. Dann stehe ich vor der Durchgangstür. Sie ist offen. Ich höre Rufe von unten und renne weiter. Wie früher fliege ich über die Stufen. Ihr holziger Klang hat sich nicht verändert. Der Film von damals läuft ab. Wie oft sind wir nach der Schule hier hinauf und morgens zum Frühstück eilig hinunter.

Nun sind wir in der Mitteletage im großen Empfangssaal und begutachten Restaurierungsfortschritte und Informationsauslagen zur Geschichte des Renaissance Schlosses. Der Saal mit Kronleuchtern und Parkettboden hatte auf mich damals immens Eindruck gemacht. Bei uns zu Hause war es immer eng zugegangen. Keiner hatte bis zum Umbau im Elternhaus ein eigenes Zimmer. Insofern war es im Internat nichts Neues, das Zimmer zu teilen.

Der Außenbereich hat sich stark verändert. Die Schulbaracken stehen längst nicht mehr, die Aula schon. In ihr fanden Schulfeste, Prüfungen und Schulveranstaltungen aller Art statt. Sie ist bereits hergerichtet, so dass auch heute hier wieder einiges stattfinden kann. Das Richard Sorge Denkmal vor der Aula ist weg. Es gab der Erweiterten Oberschule, kurz EOS, ihren Namen. Auf einer Bank lassen wir uns nieder und lassen die Bilder wirken. Jeder erlebte an diesem Ort seine eigene Geschichte. Vier Jahre waren es von der 9. bis zur 12. Klasse. Mein Jahrgang war der letzte mit vier Jahren EOS.

Als die neue Schule in Gadebusch fertig wurde, zogen wir aus den Baracken auf dem Schlossgelände aus. Das erlebten meine zweitälteste Schwester und ich noch mit. Die Wirtschaftsgebäude, die zum Schloss gehören, stehen noch. Auf dem Platz nahe vor den Toiletten lagen in der Heizsaison Kohlen. Jeden Morgen mußten wir unsere Kiepe auf dem Zimmer damit füllen, so dass geheizt werden konnte, wenn wir in der Schule saßen. In meinen letzten Jahren kam zu den Braunkohlebriketts Staub hinzu. Den sollten wir nehmen und oben nur einzelne Briketts legen. Der Brennstoffmangel zeigte sich unweigerlich. Das russische Öl ging nach Westen. Darüber dachte ich zu dieser Zeit indes nicht nach.

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