Gerade jetzt rasen Erinnerungen vorbei. In der Schulzeit rauschten die Parteitage mit Wohnungsbauprogramm und Bedürfnisbefriedigung an uns vorüber. Wer führen wollte, sollte dies in seiner Zukunft im Sinn der SED und bekam dafür Rüstzeug an die Hand. So kannte der Geschichtsunterricht in den letzten Schuljahren nur ein Lehrbuch, die Geschichte der SED. Die Partei neuen Typus sollte den Weg in den Kommunismus freimachen. Im Staatsbürgerkundeunterricht diskutierten wir darüber, wie die Menschen mit neuem Bewusstsein ihre Waren des täglichen Bedarfs in Konsum und Kaufhallen ohne Geld bekommen konnten. Mit Augenmaß gingen sie durch die Regale und nahmen nur, was sie wirklich brauchten.
Einkaufen ohne Geld, alles umsonst. Das mußten wir uns vorstellen. Dass das möglich ist, war die Vision. Für mich klang das wie im Religionsunterricht, als es um das Himmelreich ging. Das auf Erden zu erleben, wie es die kommunistische Lehre versprach, war schier unglaublich. Mir blieb der Glaube daran jedoch verschlossen wie die Grenze keine 20 Kilometer vom Elternhaus entfernt. Ich höre unseren Vater hektisch die Stufen hinauf rennen. Auf dem Boden drehte er die Antenne, da die Sender von jenseits der Grenze nicht auf derselben Frequenz zu empfangen waren.
Im Internat war es verboten, am kleinen Fernseher im Clubraum in der obersten Etage, einen Westsender zu suchen. Das blieb allein Karl Eduard von Schnitzler vorbehalten, uns Bilder aus Nachrichten zu zeigen, die er in seinen Kommentaren schwarz färbte. Sein Schwarzer Kanal war Pflicht für uns am Montagabend. Die deutsche Teilung war in mir früh geboren. Unsere Großtante aus Hamburg kam zu Besuch. Als ich noch nicht zur Schule ging, wollte sie mich immer mal wieder mitnehmen. Doch das ging nicht. Wie undurchdringlich die Grenze ist, drang mir erst im Verlauf der Jahre ins Bewusstsein.
In der Schule brach die öffentlich offizielle Welt auf mich herein. War ich hier bis auf ein paar Lachanfälle beim Fahnenappell unauffällig, fiel ich in der Internatszeit auf. Es begann in der 9. Klasse. Am Nachmittag erwischte mich die Musiklehrerin auf ihrem Rundgang, als ich einen Bastei-Roman las. Mir flatterten die Knie. Sie fragte mich, wo ich das her habe. „Von zu Hause“, antwortete ich fest. Ohne Zweifel erhaben, forderte sie mich auf, den Kitschroman im Schließfach meines Schranks zu verstauen. Das tat ich.
Ich war erleichtert, als sie ging. Vor allem hatte ich meine Zimmerkollegin nicht verraten. Von ihr hatte ich das Heft, und sie hatte es von ihrer Klassenkameradin aus der ehemaligen Schule. Nun konnte ich ihr das Heft zurückgeben. Es gab auch keine Razzia nach Schund- und Schmutzliteratur, wie das in der Schule vorkommen konnte. Dann mussten wir unsere Schultaschen auf den Tisch stellen und öffnen, damit die Lehrer prüfen konnten, dass da nichts Illegales aus dem Westen verborgen ist.
Später vermisste ich Musiksendungen. Im Ort wohnte die Tante einer Schulkameradin aus der B-Klasse. Sie nahm mich mal mit dorthin. Wir sahen und hörten dort erstmals Sweet Dreams von den Eurythmics. Ein anderes Mal war ein Besuch bei der Tante nicht möglich. Daher machte ich mir am kleinen Fernseher im Clubraum zu schaffen und drehte am Senderknopf. Plötzlich stand die diensthabende Lehrerin in der Tür. Erwischt. Ihre Standpauke fiel zum Glück moderat aus. Immerhin war es eine Meldung beim Kreisschulrat wert, wie ich Jahre später aus meiner Stasi-Akte erfuhr.
Alle guten Dinge sind drei. An der Innentür hängten meine Zimmerkollegin und ich ein Plakat auf. Darauf stand das Motto vom evangelischen Kirchentag 1983. Vertrauen wagen. Das erregte Aufsehen. Der Internatsleiter forderte mich auf, das Plakat unverzüglich zu entfernen. Da ich aus einem christlichen Elternhaus komme, ging die Aktion auf mein Konto.
Im Theologiestudium ließ ich alle Zwänge zur Linientreue hinter mir. Keine Pflichtdemonstrationen und Fahnenappelle mehr. Russisch tauschte ich gegen Altsprachen ein. Wow, ich fühlte mich frei und reiste in Gedanken. Zuletzt bin ich in der Schweiz angekommen. Dort wohnte ich bis zum November 1989.